Er ließ sich nicht verbiegen. Nachruf auf Dr. Karsten Wiebke

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Am 26. März 2020 ist der ehemalige brandenburgische sozialdemokratische Politiker Dr. Karsten Wiebke in Anwesenheit seiner Familie  nach langer schwerer Krankheit in Quedlinburg verstorben.

Der Tierarzt aus Penkun mit dem norddeutschen Akzent und Temperament wurde
am 27. April 1938 in Kiel geboren. Die Familie hatte es von 1941 bis 1945 ins ostpreußische Pillau verschlagen und ging dann mit Zehntausenden anderen wieder auf dem Weg nach Westen, um in Nordostdeutschland eine neue Heimat zu finden. Die Nähe zum Wasser, zum Segeln, blieb für ihn zeitlebens eine Passion.

Wiebke besuchte in Waren (Müritz) die Grund- und Oberschule und legte das Abitur ab. Er studierte ab 1958 Veterinärmedizin in Leipzig und Berlin, bestand 1963 das Examen und promovierte 1965 zum Dr. med. vet.

Wiebke entschied sich für eine landwirtschaftsnahe Arbeit in einer staatlichen Tierarztpraxis und lebte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Penkun im damaligen Bezirk Neubrandenburg. Die Bauern mochten den tüchtigen, akribisch arbeitenden Mann, der immer auch ein Ohr für ihre Sorgen hatte und ihnen verbunden war.

Wie bei vielen aus der Kriegskindergeneration hatten Eindrücke aus seinen ersten Jahren sein weiteres Leben geprägt. Zeitlebens stand er für Frieden und Zusammenarbeit. Als sich in den neuen Bundesländern rechtsextreme, nationalistische Gruppierungen organisierten, kämpft er als Demokrat dagegen an. Er war geradlinig, stand für Gerechtigkeit, Freiheit im Denken und Ehrlichkeit, wie sie weder in der SED noch in den Blockparteien wirklich gefragt waren. Für die widerständigen Kreise unter dem Dach der evangelischen Kirche fehlte dem
konfessionslosen Wiebke der Glaube. Und ganz im Sinne Kants sollte für ihn nicht nur das Ziel einer Handlung moralisch sein, sondern auch die Handlung selbst. Das war mit den Heilsversprechen der SED und deren real-sozialistischer Praxis nicht zu machen. So blieb er wie viele in der DDR auf Abstand zu den Oberen, ohne im offenen Widerstand zu sein.

Nach 1990 erfuhr Wiebke, dass die Stasi ihn wegen seiner kritischen Haltung als Bedrohung empfand und ihn und seine Familie über lange Zeit beobachtet hatte.

Die Wende sah er als Chance und Signal, sich politisch zu engagieren. Am 7. Dezember 1989 wurde im brandenburgischen Schwante die SPD, damals als SDP, für die damals noch existierende DDR wiedergegründet. Die rasch wachsende Partei zog Menschen wie Wiebke an. Schon im Januar wurde Wiebke, der zu DDR-Zeiten in keine Partei wollte, Mitglied der SPD. Er engagierte sich in der SPD in Prenzlau, da die Menschen dort aktiver waren, fand schnell Gleichgesinnte und baute die Parteistrukturen mit auf.

Als Abgeordneter des Bezirks Neubrandenburg wurde der zunächst noch in Penkun
ansässige Wiebke für die SPD in die erste und letzte frei gewählte Volkskammer 1990 gewählt.

Die Volkskammerzeit vom 18. März 1990 bis 2. Oktober 1990 war intensiv. Dass er in der Volkskammer war, machte ihn stolz: „Wir haben die Einheit mitgestaltet, mit allem Positiven und Negativen.“ Als Tierarzt war er gewissermaßen von Berufs wegen für eines der zentralen Themen der Nachwendezeit gesetzt, für die nun unausweichliche Umstrukturierung der ostdeutschen Landwirtschaft.

Vor der letzten Volkskammersitzung gab er mit 20 weiteren Sozialdemokraten eine Erklärung ab, die noch einmal auf Gefahren, Unrechtmäßigkeiten und Defizite im Einigungsvertrag hinwiesen. Letztlich hatte auch er dem Vertrag zugestimmt, als dem „kleineren Übel“, wie er einmal sagte: „Die Bevölkerung stand draußen und wusste nicht mehr, wie es weitergeht.“

Nach der Wiedergründung des Landes Brandenburg am 3. Oktober 1990 wurde Karsten Wiebke direkt in den Brandenburger Landtag gewählt. Er gehörte dem Parlament vom 26. Oktober 1990 bis zum 13. Oktober 2004 an. Zeitweise übte er das Amt des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden aus.

Als agrarpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und damit Mitglied des Fachausschusses im Landtag sah er sich ganz besonders als Anwalt der Menschen in den Dörfern. Manche übersahen dabei, dass in dem ruhig daherkommenden Abgeordneten aus dem Wahlkreis Prenzlau ein strategisch denkender Geist arbeitete, dem es darum ging, seinen im Einigungsprozess immer mehr in die Defensive geratenen Landsleuten zu helfen.

Im Einigungsvertrag waren wesentliche eigentumsrechtliche Grundlagen mit dem
Landwirtschaftsanpassungsgesetz und dem Bestand der Bodenreform auf den Weg
gebracht worden. Die sorgten aber für Streit auf dem Lande, vor allem wenn ortsansässige Bauern, die hier seit Jahrzehnten gewirtschaftet hatten, mit Alteigentümern um Grund und Boden stritten. Wiebke am 19. Mai 1994 im Brandenburger Landtag: „Es gibt aber, meine Damen und Herren, in Brandenburg keine freie Prärie, keine Eingeborenen und kein urbar zu machendes Land. Hier ist jeder Quadratmeter umworben, bewirtschaftet, jedenfalls dort, wo es sich zu wirtschaften lohnt.“

Hier einen fairen Ausgleich, einen „Brandenburger Weg“, zu schaffen, war für den auf Konsens orientierten Wiebke immer die Richtschnur, wobei ihm in seiner Brandenburger Zeit Kontakte aus dem Netzwerk der letzten Volkskammer halfen. Etliche der Mitstreiter der Wendezeit waren nun in Politik und Verwaltung angekommen und konnten mit ihm wirksam beim Bund, aber auch bei der Europäischen Union für eine Gleichbehandlung der ostdeutschen Agrarstruktur werben. Wenn bis heute die ostdeutsche Landwirtschaft der einzige Wirtschaftszweig ist, in dem Ostdeutsche mehrheitlich das Sagen haben, dann ist dies ein Ergebnis dieser Zeit.

Viele Probleme und Fragen mussten in den Neunzigerjahren zur gleichen Zeit gelöst
werden, die Altschuldenfrage, die Sicherung der Agrarwissenschaften im Land Brandenburg, der Aufbau der Verwaltungsstruktur. Die Landesgesetze zu den Themen Landwirtschaft, Fischerei, Flurneuordnung, Wald und Jagd hat er als agrarpolitischer Sprecher mit prägen können. Manches trägt bis heute seine Handschrift. Dass die SPD über lange Jahre Agrar- und Umweltminister stellen konnte, hat mit Menschen wie Wiebke zu tun, die die Anliegen der Menschen auf dem Lande in Landespolitik umsetzten. Der von Wiebke schon 1993 vorgelegte Entwurf eines SPD-Konzepts zur Entwicklung des ländlichen Raumes enthält bereits viel von dem, was bis heute auf der Tagesordnung steht und weiter umgesetzt werden muss, um einer Benachteiligung ländlicher Räume entgegen zu wirken.

Wiebke war immer auch ein überzeugter Europapolitiker. Dabei kam ihm seine
Sprachbegabung zugute. Er sprach auch Polnisch, das er für seine frühere Tätigkeit als Tierarzt und für Reisen ins Nachbarland erlernt hatte. Für ihn war „Sprache“ verbunden mit Respekt vor anderen Menschen und Nationalitäten. Auch diesen Schwerpunkt seiner politischen Arbeit betrieb er ernsthaft und vorausschauend: „Am 1. Mai macht Europa einen bedeutenden Schritt auf dem Wege zur europäischen Integration, zu mehr politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit, zur Stärkung der gemeinsamen Werte, zur Erhöhung des allgemeinen Lebensniveaus und damit zu mehr Stabilität und Frieden in Europa. Dieser Schritt ist nicht problemlos und bedurfte einer intensiven Vorbereitung für die Beitrittsländer wie für die Europäische Union, für das Nachbarland Polen wie für Deutschland, für die Nachbarregion Brandenburg wie für die angrenzenden Woiwodschaften in Polen, Lebuser Land, Westpommern, aber auch Masowien und Großpolen“, mahnte er 2004 in einer seiner letzten Landtagsreden und forderte eine aktive Integrationsarbeit.

Als Abgeordneter wurde Karsten Wiebke über Fraktions- und Parteigrenzen geachtet. Er war keiner, der im Hinterzimmer, sondern auf der offenen Bühne Politik machte. Er war integer und kompetent, konnte aber auch unbequem sein, wenn es sein Gerechtigkeits- und Ehrlichkeitsempfinden verlangte. Er drängt nicht in die erste Reihe, wichtiger war ihm Teamarbeit. Wen er als ehrlich und aufrichtig erkannt hatte, dem blieb er als Freund und Verbündeter lange treu.

Er hatte etwas zu sagen: Das Plenarprotokoll verzeichnet immer wieder seine Zwischenrufe und ein paar Mal eine persönliche Erklärung. Er wollte sich als Parlamentarier bei allen Kompromissen nicht verbiegen lassen. Er schrieb Reden, Anträge und Anfragen selbst, war wortgewandt, auch mal poetisch oder sprach Platt.

In Warnitz, in seinem Wahlkreis in der Uckermark, wo er nach der Wende seinen
Lebensmittelpunkt hin verlegt hatte, erfuhr er große Achtung, Respekt und Anerkennung. Mit Herz und Leidenschaft setzte er sich für die großen und kleinen Belange der Menschen ein, hörte ihnen zu und scheute keine Diskussion. Er engagierte sich für die Kreismusikschule, Schulentwicklungspläne, Busunternehmen und vieles mehr. Wenn er mal spröde daherkam, dann wirkte das in seiner norddeutschen Art besonders spröde. Und dann hatte das auch seinen Grund.

Wiebke engagierte sich lange Jahre als Mitglied des Kreistags Uckermark und in zahlreichen Ehrenämtern.

Er liebte das Leben, war immer neugierig und offen für Neues. Reisen beeindruckten und inspirierten ihn, vor allem wenn er fachlich als Landtagsabgeordneter unterwegs sein durfte. Er reiste nach Schweden, in die ostpreußischen Städte Königsberg und Pillau, nach Mexiko, Italien, wo ihn das Genossenschaftswesen in der Emillia Romagnia beeindruckt hatte, und natürlich zu den EU-Gremien nach Brüssel. Seine letzte Parlamentarische Anfrage im Brandenburger Landtag 2004 trägt die Überschrift „Rückübertragung von Bodenreformland“ und verweist damit auf eines seiner Lebensthemen.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Landtag wurde es ruhiger um ihn. Erste gesundheitliche Einschränkungen zeigten sich.

Fraktionskollegen und Mitarbeiter erinnern sich an Karsten Wiebke als einen kompetenten, aufrichtigen, fleißigen und uneigennützigen Abgeordneten.

So wird er in Erinnerung bleiben.

Potsdam, April 2020

Petra Bodenstein
Dr. Jens-Uwe Schade
Dr. Günter Neumeister

 

Titelbild: pixabay/pixel2013